Thomas Siegemund und Tochter Alexandra sind oft mit dem neuen Fahrrad unterwegs, das nun auch lange Ausflüge ermöglicht. Mutter Heike radelt normalerweise ebenfalls hinterher.      FOTO: Privat

Mitten in Wehrheim liegt das Haus der Familie Siegemund. Nichts Auffälliges prägt die Häuser in der Feldstraße, vielleicht fällt noch der bunte Balkon der Familie ins Auge. Vorne die Auffahrt, hinten der kleine Garten, in dem sich die Eltern Heike und Thomas zum Gespräch mit dem Reporter eine kleine Auszeit nehmen. Auszeit?

Schaut man in die beiden meist lachenden Gesichter und hört die oft mit Humor gewürzten Sätze, wird nur langsam deutlich, was die beiden an Tagesarbeit mit stoischer Gelassenheit bewältigen. Denn im Haus sitzt die 16-jährige Alexandra, die wie eine Tochter bei den beiden im Haus lebt. Nein, eigentlich ist sie die Tochter, auch wenn sie im Säuglingsalter nur als Pflegekind für sechs Monate aufgenommen werden sollte. Alexandra hat das Downsyndrom, spricht nicht und kämpft zudem mit den Spätfolgen eines sogenannten „fetalen Alkoholsyndroms“. Eine Folge der Alkoholabhängigkeit der leiblichen Mutter. Ihr wurde über das Jugendamt das Sorgerecht entzogen, Siegemunds sprangen vor rund 16 Jahren als Übergangs-Heim ein. Doch nach dem halben Jahr fand sich keine neue Heimat, Alexandra blieb. So einfach war das. Fast. Denn im Haus lebt noch eine zweite Tochter, der adoptierte Sohn ist inzwischen ausgezogen und hat sein eigenes Leben.

Spätfolgen wegen Alkohols

Die 16-Jährige kann nicht sprechen – auch eine Folge des Alkohols in der Schwangerschaft. Man verständigt sich mit Gesten, Blicken und vor allem Lauten. Vor allem Alexandra verständigt sich ganz gut mit Gebärden. Mit den Eltern läuft die Kommunikation meist mit Gebärden, die Eltern machen gerade einen entsprechenden Kurs. „Sie kann schon recht deutlich zeigen, wenn sie etwas nicht will“, schmunzelt der Vater. Und wie zum Beweis kommt er nach wenigen Minuten unverrichteter Dinge wieder aus dem Haus. „Hat keine Lust auf ein Foto“, meint er. Muss sie auch nicht, das Foto wird irgendwann geschossen.

Radfahren ist die große Leidenschaft

Zu der gesamten Situation kamen im Lauf der Jahre noch diverse Operationen an Herz und Darm. Die Ohrenentzündung ist schon fast chronisch. „Wir leben damit. Das geht. Und sie gibt uns auch sehr viel Freude“, meint Mutter Heike. Vor allem, wenn sie auf dem Fahrrad sitzt. Und genau hier kommt nun die Leberecht-Stiftung der Frankfurter Neuen Presse – zu der auch die Taunus Zeitung gehört – ins Spiel.

Das alte Tandem war in die Jahre gekommen. Und ein neues, das für behinderte Kinder und Jugendliche geeignet ist, kostet eine ganze Menge Geld. Denn alleine fahren kann die Jugendliche nicht, aber sie sitzt vorne und lässt sich den Wind ins Gesicht wehen. Grüßt jeden, winkt allen zu und jauchzt, wenn sie etwas Besonderes entdeckt. „Inzwischen machen wir Touren über drei Stunden, davon kann sie gar nicht genug bekommen“, so Heike Siegemund. Rund 150 Kilometer halten die beiden Akkus stand, bevor sie wieder ans Netz müssen. „Radfahren, das ist ihre große Leidenschaft. Neben dem malen.“ Gemalt hat sie auch, als ein Foto gemacht werden sollte. Wasserfarben kontra Bild, eins zu null Wasserfarben.

Noch geht die Jugendliche in die Albrecht-Strohschein-Schule in Oberursel. Praktischerweise arbeitet Mutter Heike dort in der Verwaltung. Zurück ins heimische Wehrheim fährt sie meist per Taxi. Vater Thomas ist auch berufstätig. Als Koch versorgt er den Kindergärten des VzF in Rosbach (Verein zur Förderung der Integration von Menschen mit Behinderung) im Kreis. Bäcker und Konditor hat er gelernt, bevor er über eine Hotelstation zum VzF kam. So erreicht er am frühen Nachmittag das Zuhause und kann sich um Alex kümmern. Denn die Jugendliche darf keine Minute alleine gelassen werden. „Da gibt es schon so die eine oder andere Besonderheit“, meint Heike mit eine Schmunzeln. Sie liebt kleine Kinder. Und deshalb haben die Eltern inzwischen eine gute Reaktionsfähigkeit, bevor so ein Säugling aus dem Wagen den Weg in Alexandras Arme findet. Und weil sie neugierig ist und alles kennenlernen will, wäre sie ohne Aufsicht auch schnell aus dem Grundstück verschwunden.

„Einkaufen ist schon ein bisschen stressig. Bevor wir schauen können, ist der Wagen randvoll. Sie kann alles gebrauchen“, meint Papa Siegemund.

Bald steht eine große Entscheidung an – denn nach der Schulzeit muss es ja weiter gehen. Schon jetzt haben die Eltern kaum Chancen, einmal Luft zu holen. Sie versucht Zeit zum Reiten zu finden, er geht auf Konzerte, beide machen seit neustem Yoga. Erholung sieht anders aus. „Die Trennung würde ich am liebsten Schritt für Schritt machen“, sagt Heike Siegemund. Und am liebsten mit der Lebensgemeinschaft Bingenheim, wo Alexandra leben könnte, arbeiten und Betreuung hätte. Es ist ein Wohn- und Betreuungsangebot für Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und eine anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen. „Vielleicht kann sie tagsüber dort sein und abends bei uns“, überlegt sie.

Wohl wissend, dass der doppelte Weg täglich zu einem großen Problem wird. Aber loslassen ist immer schwer.

Bis es so weit ist, gehen noch einige Radkilometer ins Land. „Wenn uns die Leberecht-Stiftung nicht geholfen hätte, wäre das Tandem nicht finanzierbar gewesen“, sagen beide. Und kaum war der störende Reporter aus dem Haus, war das Rad interessanter als der Pinsel. Na denn: Immer eine gute Fahrt ihr drei!

Andreas Burger